Schneller als es sich viele hätten vorstellen können, wurden in Europa die rigiden Corona-Maßnahmen zurückgefahren. Ein Hauch von zurück erhaltener Freiheit weht durch den Kontinent, im ganzen Land atmet man wieder durch – so auch in der Lederbranche. Nach drei Jahren fand endlich wieder eine APLF statt, wenn auch nicht an ihrem angestammten Standort in Hongkong. Die APLF Dubai wurde unterschiedlich besprochen: Organisation und Durchführung wurden allseits gelobt, jedoch hat die Versanstaltung zwangsläufig ihren Charakter stark verändert. Standen früher die Besucher aus dem Großraum China im Fokus, so war es in diesem Frühling vor allem der indische Subkontinent. Das fanden viele Chemikalien- und Maschinenanbieter gut, andere Ausstellergruppen aber weniger gut. Aber die Chinesen sind weiterhin isoliert (Bericht Seite 4*).
Auch die 10. Freiberger Ledertage profitierten von der neuen Freizügigkeit. Sie gingen nun endlich wieder live über die Bühne, der Großteil der Teilnehmer war nach Chemnitz gekommen (Bericht Seite 9*). Alle Teilnehmer schätzten den persönlichen Kontakt zu ihrem Gegenüber; derart intensive Gespräche sind nun leider einmal online in irgendwelchen Telekonferenzen kaum vorstellbar.
Doch China steckt noch immer zu einem Großteil im Lockdown. Mehr und mehr mündet die Null-Covid-Pollitik der Parteigenossen offensichtlich in ein wirtschaftliches Desaster. Immer stärker hat dies Auswirkungen auf die globalen Beschaffungsprozesse mit dem Ergebnis, dass in aller Welt die Bänder ins Stocken geraten – und mithin die Umsätze einbrechen. Oder ist das etwa das Ziel der Chinesen? Wenn erst die Firmen in der westlichen Welt in den Ruin getrieben sind, könnten sicherlich chinesische Firmen aushelfen. Schließlich haben westliche Unternehmen in den letzten Jahrzehnten in einem extremen Maße Know-how ins Reich der Mitte exportiert. Ein Schelm wer Böses dabei denkt.
Mit dem Ukraine-Krieg kommt nun neues Ungemach über die Branche. Da fallen in der Ukraine Produktionsstätten plötzlich aus, zusätzlich brechen Logistikketten zusammen. Die extreme Verteuerung der Energie sorgt für zusätzlichen Druck. Den italienischen Lederindustrieverband Unic hat dies am 18. Mai zu einem eindringlichen Appell an die Geschäftspartner seiner Mitgliedsunternehmen veranlasst. Verbandspräsident Fabrizio Nuti wies darauf hin, dass sich die Lederindustrie noch nicht von den Rückschlägen durch die extremen Corona-Maßnahmen mit den unsäglichen Lockdowns erholt habe. Zwar hätten die italienischen Gerber im vergangenen Jahr ein Umsatzplus von 19 Prozent und ein Mengenplus von 11 Prozent erzielt; man liege aber noch immer deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau.
Die fortgesetzte Erholung der Branche werde aber nun komplett abgewürgt: Die weiteren geschäftlichen Aussichten seien durch die Corona-Politik Chinas sowie den russischen Krieg gegen die Ukraine extrem in Mitleidenschaft gezogen. Hinzu kämen die Explosion der Energiepreise sowie die Inflation bei den Vorprodukten, vor allem bei Chemikalien. Nuti fordert daher eine „Solidarität der Lieferketten“ – was letztlich einem Appell an die Ledereinkäufer gleichkommt, höhere Lederpreise zu akzeptieren. Nur so sei die Schließung vieler Betriebe zu vermeiden.
Abseits dieser aktuellen Probleme gibt es immer wieder Menschen, welche die Nachhaltigkeit des Materials Leder in Abrede stellen möchten. Diesen sei die Lektüre unseres Berichts über einen historischen Lederfund in Norddeutschland empfohlen, den Sie ab Seite 13* finden. Ein natürliches Material, traditionell mit Baumrinde gegerbt, das noch nach über 200 Jahren voll einsatzfähig ist – das ist Nachhaltigkeit pur. Wir gehen auf eine spannende Zeitreise – kommen Sie mit! Manfred Willsch
* Die Seitenverweise beziehen sich auf unsere aktuelle Ausgabe PRO-LEDER 3. Sie sind noch kein Abonnent? Bestellen Sie doch einfach mal ein Probeheft – gratis und unverbindlich!